Treffen in Annaberg

„Chalupki" von Anna Albinus. Edition fotoTAPETA, 94 Seiten, 15 Euro

Riding The Rails. Immer in Bewegung. Das passt auf makabre Weise in das Leben der namenlosen Schlafwagenschaffnerin, von der Anna Albinus in ihrem zweiten Buch „Chalupki" erzählt. Es ist ein Leben auf der Flucht, das in Mossul im Irak seinen Anfang nahm. Heute ist die Frau Schlafwagenschaffnerin. Jetzt fährt sie die Strecke zwischen Wien und Berlin. Und der besondere Ort auf der Route ist: Chalupki, das ehemalige Annaberg in Niederschlesien, gefühlt der Mittelpunkt Europas. Das ließe sich nachmessen, doch warum ist dieser Ort so einzigartig? „...und hätte sie jemand gefragt, was an ihrem Beruf sie am meisten mochte, hätte sie gesagt, das, das Gefühl von Chalupki." Eine Reise verläuft anders. Es ist das Geräusch eines Stöhnens aus einem der Abteile, durch das die Hauptperson auf ihr eigenes Leben zurückgeworfen wird. Sie hat das Stöhnen einer schwangeren Frau gehört. Doch plötzlich ist die Frau aus dem Zug verschwunden, allein, sie hat der Schlafwagenschaffnerin etwas zurückgelassen.
Im zweiten Buch der für „Revolver Christi" ausgezeichneten Autorin Anna Albinus offenbart sich eine Lebensgeschichte. Die schon in ihrer Novelle „Revolver Christi" zu bewundernde, fein ziselierte Sprache ist auch hier in „Chalupki" zu finden. Reduktion, keine Ausschweifung in den Szenen, Anna Albinus trifft einen ganz eigenen Ton, der ihr für ihren Erstling u.a. den Österreichischen Buchpreis 2021 einbrachte. Gab es übrigens auch zu „Revolver Christi" eine starke Lesung von Omid-Paul Eftekhari, so liest jetzt Marit Beyer, die bereits einige Hörbücher für derDiwan eingelesen hat, vorzüglich mit Sachlichkeit und Zurückhaltung in der Interpretation, was perfekt die Stimmung dieser außergewöhnlichen Erzählung einfängt. Lesen oder Hören?! Beides ein Genuss!
Rainer Scheer