Der Blick auf Medusa

„Stone Blind – Der Blick der Medusa" von Natalie Haynes, dtv, 368 Seiten, 24 Euro

„Ich wollte schon lange einmal über Medusa schreiben. Ich hatte das Gefühl, ich schulde ihr einen Roman. Medusas Geschichte ist die eines Monsters, das kein Monster ist. Wir denken immer, sie sei etwas Böses - aber ich habe den Eindruck, dass wir dabei viele Elemente ihrer Geschichte völlig übersehen.", so kommentiert Autorin Natalie Haynes ihre Intention zu dem Buch „Stone Blind". Und ja, der Name Medusa ist in den Köpfen negativ besetzt, und Buch/Film-Titel wie „Der Schrecken der Medusa" (1978) mit Richard Burton und Lino Ventura haben dieses Image noch untermauert. Natalie Haynes räumt damit auf: Aus den verschiedensten Perspektiven erzählt, entsteht nach und nach das Bild der (übrigens einzigen sterblichen) Gorgone, der Tochter der Meeresgottheiten Phorkys und Keto. Diese Erzählweise mit kurzen Passagen ist zunächst sehr gewöhnungsbedürftig, zumal die Liste der handelnden Personen gerne umfangreicher und informativer hätte ausfallen können. Wer keine Vorkenntnisse in griechischer Mythologie hat, ist hier zunächst gefordert, da sollte, je nach Generation, ein Lexikon oder Wikipedia in Reichweite sein. Doch Natalie Haynes schafft Erstaunliches, denn es ist eben jene breit angelegte Erzählform, die es erlaubt, Medusa in weitreichenden Facetten darzustellen. Hier wird nicht das wiedergegeben, was schon Schulbücher über griechische Götter vermitteln. Und so gibt die Autorin nicht nur Medusa sozusagen eine Stimme, sondern die Leserschaft erfährt darüber hinaus viel über andere griechische Gottheiten und Helden, was sich nicht zwingend mit dem seinerzeit Erlernten deckt. In dieser Diskrepanz liegt ein Reiz dieses Ausnahmebuches, das vom Thema her ungewöhnlich ist, durch seine Erzählform überrascht und was schlussendlich Neugier weckt, weiter in die Götterwelt einzutauchen. Und warum auch nicht, die Autorin wird im Juli 2023 mit „Die Heldinnen von Troja" nachlegen, eine kurze erste Leseprobe wird in „Stone Blind" mitgeliefert. „Der Blick der Medusa", wie „Stone Blind" im Untertitel heißt, ist absolut lesenswert.

Rainer Scheer